Wikipedia Manske Polymerase-Kettenreaktion

Wikipedia Manske Polymerase-Kettenreaktion

Der Tunnel Beyschlagsiedlung auf der Berliner Stadtautobahn dröhnt. Der Widerhall der Hupe im Tunnel scheucht kleine Tiere auf. Der Harleyfahrer mit der Kutte „Odins Olle Outlaws MC“ verreißt fast die Maschine. Sein böses Starren kann ich durch das verspiegelte Tuning-Visier am Wehrmachtshelm spüren. Madame schaut überrascht von der Wettervorhersage am Handy auf. Müsste ich nicht lenken, würde ich entschuldigend mit den Schultern zucken. Die Begeisterung übermannte mich, führte meine Hand auf die Hupe.

Der Drosten hat im Radio minutenlang Wahrscheinlichkeiten über mehrere Generationen durchgerechnet. „Wenn jeweils einer zehn ansteckt und die anderen neun nur einen und einer von zehn bleibt die Woche zufälig zu Hause, dann sind wir in der dritten Generation..“ Überschlagsrechnungen! Mathe! Im Radio! Glückswolken ziehen auf. Madame freut sich an meiner Begeisterungsfähigkeit. Sie weist darauf hin: „Im Podcast“. Drostens praktische Wahrscheinlichkeitsrechnung läuft nicht im Radio.

Der Drosten-Podcast fühlt sich an wie frühe Wikipedia. Geschichten aus dem Leben. Wissenschaft. In der Hoffnung, dass die Hörer mitdenken. Anschaulich erklärt, unterhaltsam, relevant. Vielleicht fühle ich mich auch so sehr an die frühe Wikipedia erinnert, weil Drosten in hoher Intensität „PCR“ sagt.

PCR, die Polymerase Chain Reaction, deutsche Polymerase Kettenreaktion, ist ein Verfahren der Biochemie, um bestimmtes Erbgut (DNA oder indirekt RNA) nachzuweisen. Vor allem ist das Verfahren derzeit von weltweiter Relevanz, da der Test via PCR der Goldstandard zum Nachweis des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (SARS2) ist.

Jeder frühe Wikipedista kennt das Wort Polymerase-Kettenreaktion. Denn der Wikipedia-Artikel zum Thema gilt als erster Wikipedia-Artikel überhaupt. Wie nerdig Wikipedia war, beweist, dass das Thema PCR das Thema des ersten deutschen Wikipedia-Artikels aller Zeiten war. Es beweist, wie Wikipedia damals auf die Zukunft gerichtet war.

PCR

Allerdings. Nur weil Wikipedistas das Wort kennen, wissen sie noch lange nicht, was es bedeutet. Es ist „was biologisches“, wäre meine Auskunft bis vor SARS2 gewesen. Aber ich kann nachschlagen.

CR

Was ist PCR? Der Teil, den ich als Banause zuerst verstehe: die Kettenreaktion oder Chain reaction. Es geht um einen chemischen Prozess, bei dem etwas hergestellt wird. Aus den Ausgangsprodukten wird wieder etwas hergestellt. Aus diesen wird im nächsten Schritt wieder etwas hergestellt. In jedem Schritt verdoppelt sich die Zahl. Das Verfahren läuft exponentiell ab. Wie bei jedem exponentiellen Wachstum können innerhalb kurzer Zeit enorme Mengen erzeugt werden.

Bei der der PCR wird DNA vervielfältigt. Die DNA wird in jedem Schritt verdoppelt. Bereits bei Schritt 5 hat man die 32-fache Menge des Ausgangsmaterials bei Schritt 10 de 1024-fache Menge und bei Schritt 15 entsteht etwa die 32.000-fache Menge des Ausgangsmaterials. Bei Schritt 16 die 64.000-fache Menge, bei Schritt 17 die 128.000-fache Menge.

Dies ist nötig bei Viren, die so klein sind, dass sie erst mit dem Elektronenmikroskop überhaupt gesehen sichtbar gemacht werden können.

Die Größe von Viren wird in Nanometer angegeben. Das ist dieselbe Einheit, die zur Messung der Wellenlänge von Licht benutzt wird. Dabei erreichen nur große Viren das Format einer kurzen Lichtwelle. SARS2 beispielsweise hat einen Durchmesser von 60 bis 140 Nanometer. Gerade noch sichtbares kurzwelliges ultraviolettes Licht hat eine Wellenlänge von etwa 400 Nanometer. Wir begeben uns in Gegenden der Physik in denen „Sichtbarkeit“ aus physikalischen Grünen schwierig wird.

Um die Existenz eines Virus nachzuweisen braucht es erhebliche Mengen des Virus. Er muss vielfach repliziert werden. Auf der Suche nach dem Coronavirus durchläuft der Virus etwa 35 Durchgänge der PCR-Verdoppelung. Was bedeutet: Aus einer Virus-RNA werden 35 Milliarden Kopien. Diese lassen sich mit diagnostischen Verfahren nachweisen. Ergänzend lässt sich Zählen wie viele Zyklen es bis zum Nachweis des Virus benötigt. Und daraus läßt sich rückschließen, wie viele Viren anfangs in der Probe waren.

P

Wie kommt die Polymerase zur Kettenreaktion?

DNA kommt in Doppelhelixstrukturen vor. Zwei identische DNA-Bänder kleben aneinander. Vor einer Zellteilung teilt sich dieses DNA, um jeder neuen Zelle einen identischen Satz DNA mitzugeben. Das zweite DNA-wird mit Hilfe der DNA-Polymerase aus den Informationen der ersten hergestellt, um wieder die Doppelstruktur zu haben.

Bei der PCR wird die im Original doppelsträngige DNA durch Erhitzen in zwei einzelne Stränge geteilt. Die künstliche hinzugefügte DNA-Polymerase erzeugt aus dem ersten DNA-Strang einen zweiten identischen Strang. Der neue Doppelstrang wird wieder durch Hitze geteilt. Und so weiter. Bis ausreichende Mengen an DNA zur Verfügung stehen.

Grafik zur Erläuterung der PCR. Die DNA wird aufgesplittet, mit Hilfe der Polymerase (und der Primer) verdoppelt und dann wieder aufgesplittet. Das ganze durch mehrere Durchgänge.
Schaubild der PCR aus der Wikipedia. Entstanden 2017. Von:
WiWiki Lizenz: Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“

In der Realität ist der Prozess komplizierter. Was bereits damit beginnt, dass SARS2-Viren aus RNA bestehen, die PCR aber nur DNA kann. Die Viren müssen vor der PCR erst in Pseudo-DNA verwandelt werden. Aber das führt zu weit. Ehrlich gesagt verstehe ich es auch nicht mehr ansatzweise.

Der erste Artikel

Der Legende nach, die überall nachzulesen ist, war der Artikel zur PCR der allererste Artikel der deutschsprachigen Wikipedia. Wie immer, wenn es um etwas „erstes“ geht, wird der Anspruch bei genauerer Betrachtung schwierig.

Die Wikipedia stieg nicht wie Venus aus dem Wasser, sondern sie hatte Vorläufer. Die deutsche Wikipedia entstand aus der englischen Wikipedia. Die englische Wikipedia war als Skizzen- und Notizbuch für ein anderes Enzyklopädieprojekt, die Nupedia gedacht. Gerade in der Anfangszeit wechselten die Medien und die Software. Es begann mehrfach.

Die älteste Version

Wikipedia speichert alle Versionen aller Artikel. Der Kundige kann nachvollziehen, was im Jahr 2001 im Artikel zur PCR stand, was im Jahr 2010 und was im Jahr 2020. Alle diese Versionen sind datiert.

Einige Jahre nach ihrer Gründung fragten sich die Wikipedianer: Was war der allererste Artikel? Die Antwort schien einfach: der Artikel mit der ältesten auffindbaren Version. Es war der Artikel zur Polymerasekettenreaktion, geschrieben von Magnus Manske.

Anzeige der ersten auffindbaren Versionen des Wikipedia-PCR-Artikels. Man beachte, dass die ersten „Autoren“ (Angabe in der Spalte rechts vom Datum) alles technische Benutzer waren. Diese bearbeiteten offensichtlich einen bereits vorhandenen von einem Mensch geschriebenen Text.

Nun allerdings gab es ein Problem. Am Anfang war die Welt Chaos und so auch die Wikipedia. Aufgrund verschiedener Gründe waren die allerallerersten Versionen gelöscht worden. Die erste auffindbare Version in der Wikipedia 2010 – die erste Version zur Polymerase-Kettenreaktion – war nicht die erste geschriebene Version der Wikipedia 2001.

Wikipedia-Archäologie der Urgesteine Kurt Jansson und Jakob Voss brachten 2011 die erste geschriebene Version von 2001 zum Vorschein: Vergil. Geschrieben von James Allan Evans und auf deutsch übersetzt von Rainer Zenz.

Die deutsche Wikipedia kam nicht aus dem Nichts. Ihre ersten Artikel waren Übersetzungen englischer Wikipedia-Artikel, die als Entwürfe für englische Nupedia-Artikel entstanden waren. Wie Vergil so die PCR. Ist die Übersetzung eines Entwurfs für ein anderes Projekt ein „erster“ Artikel.

Sollte dieser Ruhm nicht dem Artikel zukommen, der auf Deutsch exklusiv für die deutsche Wikipedia entstand? Dann wäre es Dänemark, gefolgt von Kattegat und Nordsee – alle in kurzer Abfolge geschrieben vom Dänen Schweden Lars Aronsson.

Magnus Manske

Wer über PCR und Wikipedia redet, muss über Magnus Manske reden. Der einzige Wikipedianer, der seinen eigenen Gedenktag hat. Der 25. Januar ist der in Wikipedia gefeierte Magnus Manske Tag. „Tonight at dinner, every Wikipedian should say a toast to Magnus and his many inventions.

Manske ist derjenige, ohne den es Wikipedia in der heutigen Form nicht gäbe. Auch wenn seine Autorschaft des „ersten Artikels“ Zufall ist – der Zufall hat gut gewürfelt. Neben PCR stammten die ersten Artikel zu Charles Darwin von Manske oder zum Plasmid – ein Teil der Bakterien-DNA, der im Labor genutzt wird, um Gene zu vervielfältigen. 2008 meinte Manske im Interview, dass PCR vielleicht nicht einmal sein eigener erster Artikel in der Wikipedia war, sondern der Artikel „Zelle.“ Vielleicht aber auch die Mitochondrien.

Den Magnus-Manske-Day verdankt die Welt nicht dem Biochemiker Magnus Manske, sondern dem Programmierer Magnus Manske. Manske schrieb die erste Version der MediaWiki-Software, diejenige Software auf der Wikipedia bis heute läuft.

Manske führte neue Funktionen ein, die bis heute Standard der MediaWiki-Software sind. Manske führte Beobachtungslisten, Beitragslisten und die Existenz verschiedene Namensräume ein. Seine kontroverseste Erfindung war vielleicht die Erfindung der „Administratoren“ als Gruppe mit besonderen Rechten.

In den folgenden Jahrzehnten stammten aus Manskes Händen weitere Tools um Wikipedia, die Wikipedia-Galerie und die Wikipedia-Datenbank zu bearbeiten. Manskes Motivation, Mediawiki zu programmieren, wird vielen Wikipedistas bekannt vorkommen: Er wollte etwas lernen. In diesem Fall die Programmiersprache PHP, die er vorher noch nie genutzt hatte, und in der Mediawiki programmiert ist.

Manske stammt aus Köln, ist 45 Jahre alt und arbeitet seit 13 Jahren am Wellcome-Trust-Sanger-Institut in Cambridge. 2012 war ein Co-Autor eines Nature-Aufsatzes zur Sequenzierung der DNA von Malaria-Parasiten. 2013 war er „Head of Informatics in the Malaria Programme at the Sanger Institute“ Unter anderem war er beteiligt, die Lookseq-Software zu Programmieren, die es Forschern erlaubt DNA-Sequenzen zu visualisieren. Was inhaltlich meinem bescheidenen Verständnis nach nahe an der PCR ist.

Pantha rhei

Dieses Unfertige. Diese Mischung aus großen, komplexen Gedanken wie dem zur PCR und dem Unordentlichen des Neuanfangs wie die Löschung der Versionen, diese reizte mich und viele andere an der Wikipedia. Es begeisterte und begeistert mich. Und auch wenn Christian Drosten kein Student ist, diese Lernbegeisterung verströmt er mit jedem Satz. Diese Begeisterung, wie er kurz Wahrscheinlichkeiten durchrechnet – und in seinem Inneren davon auszugehen scheint, dass ihm alle begeistert Folgen können. Das ist der Geist der Wikipedia in ihren besten Momenten.

Titelbild

Gegenüberstellung eines RNA-Strangs und eines DNA-Doppelstrangs mit Darstellung der jeweiligen Nukleobasen (Link) von: Benutzer:Sponk, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Weiterlesen und -hören

Langes Podcast-Gespräch mit Magnus Manske im Wikistammtisch

Manskes Blog

Rückblick von Jakob Voss auf die ersten 10 Jahre Wikipedia von dort aus gefunden die ersten 10.000 Edits der englischen Wikipedia – verloren geglaubt und 2010 wiedergefunden

Auch aus dem Jahr 2011 Kurt Jansson „Der kurze Sommer der Anarchie“ – ein Rückblick, der aus heutiger Perspektive selber schon sehr historisch und nostalgisch wirkt.

Auch bei der Recherche gefunden. Ein 300-Seiten-Epos in Form einer linguistischen Doktorarbeit zum Schreiben in der Wikipedia. Beim ersten Überfliegen aus Sicht eines Wikipedianers: Die Autorin hat Ahnung. Und niemand las ich bisher, der so toll und anspruchsvoll ausformulieren könnte, wie wir in der Wikipedia so herumlavieren. Nach der Lektüre des Textes hat man beim piefigsten Editwar die Überzeugung an bedeutsamen Prozessen teilzunehmen.

Die deutsche Wikipedia, Stand August 2001

admin

5 Gedanken zu “Wikipedia Manske Polymerase-Kettenreaktion

  1. Kurze Berichtigung (wo ist hier der „Bearbeiten“-Knopf?): Lars Aronsson ist Schwede, nicht Däne.

    1. Danke. Ist korrigiert.

      (und da Madame auch immer meckert: meinst du es wäre eine sinnvolle / machbare Idee, einfach Stammlesern die Zugangsdaten zum Blog zu geben? Oder spricht hier nur meine persönliche Faulheit?

  2. Die für Nupedia geschriebenen Artikel lagerten damals ziemlich lange in einem als separat von Wikipedia wahrgenommen Bereich auf Unterseiten. Für uns waren sie vom Umfang, Stil und Entstehungsprozess etwas ganz anderes als die Wikipedia-Ursuppe, in der Artikel oft langsam Satz für Satz anwuchsen. Deshalb dauerte es auch, bis wir uns entschieden, diese „Fremdkörper“ zu integrieren.

    Aus heutiger Sicht, in der kilometerlange und für Laien unzugängliche Artikel in manchen Themenbereichen die Regel sind, wirkt das etwas kurios. Vielleicht hätten wir uns lieber Nupedia zum Vorbild nehmen sollen, statt uns dagegen abzugrenzen.

    1. So oft denke ich „Nupedia“ wenn ich die heutige Wikipedia sehe – und glaube immer noch nicht, dass eine Nupedia existieren kann. Nicht in Mengen mit dem Aufwand, den man in Artikel stecken muss und null Reputationsgewinn. Aber die Wikipedia testet es gerade aus. Und vielleicht wird wieder alles ganz anders.

      Kannst Du dich noch erinnern wie viele dieser Nupedia-Artikel es damals gab? Deren Geschichte müsste wohl auch noch geschrieben werden.

Kommentare sind deaktiviert.