Fall; or, Dodge in Hell und die Realität
Schneeglöckchen trieben am Südhang des Alboinplatzes. Sonne, Vogelgezwitscher hatten Eltern und Kinder auf den Spielplatz gelockt. Sie blickten hinab, dort am Grund des Kraters, wo das ehemalige Toteisloch seinem Namen alle Ehren machte. War nach drei Tagen Sonnenschein jenseits der Grad das Frühjahr ausgebrochen, blieb der Tümpel am Grund des Platzes stoisch. Eine Eisfläche, der kälteste Ort Schönebergs – dort, wo schon Schnee lag, wenn es anderswo noch regnete, dort, wo Eisflächen waren, wenn in Berlin Menschen in kurzen Hosen einkaufen gingen.
Ich hatte mich abseits des Treibens gesetzt, las im Schatten der Auerochsenskulptur.
Ich beobachtete das Gewusel und freute mich am fotogenen Ausblick aus Eis, Sonne, Blümchen. Aus dem Auge heraus nahm ich Springen wahr, schaute hin.
Ich erblickte Z, die Freundin von DJ Hüpfburg, die linguistische Logikerin/Turnerin aus Arkansas-Mississippi, sprang‘ einen Überspagat mit gespreizten Armen vor der Kulisse. Sie sah nicht fröhlich aus: „Fucking 21. Jahrhundert. Schöne Bilder für Insta, damit die Menschen meine linguistische Mediation buchen. Der Fucking Spagat auch noch. Dabei ist Salto viel cooler. Nur nicht so fotogen. Algorithmus-gesteuerte Braindeads.“ Und sie spang wieder in die Höhe, das schönste Bühnenlächeln aufgesetzt, arme vorbildlich nach links und recht gespreizt. „Was liest Du?“
„Neal Stephenson – Fall; or, Dodge in Hell“ das Buch, das sich mit genau den Fragen auseinandersetzt. Der Autor von philosopischen Schlachtrossbüchern wie Anathem wird wieder zugänglicher. Ich bin auf Seite 240 von 883. „Dodge“ spielt in der nahen Zukunft. Die ersten Seiten laufen mehr oder weniger im Jetzt, die Haupthandlung in 20 bis 30 Jahren. Ich entdecke bisher zwei Handlungsstränge, die sich aufeinander zu entwickeln.
Dodge, der Titelheld und Internet-Milliardär, stirbt. Aufgrund eines unüberlegten Testaments wird sein Gehirn gescannt. Es wird in die Cloud geladen und seiner Biologie beraubt. Das Buch begann mit Überlegungen, wie Geist und Körper aufeinander angewiesen sind. Wie Bewusstsein ohne Sensorik, ohne Möglichkeit sich mitzuteilen, funktioniert.
Es fielen Andeutungen über den Bewusstseinsverlust und Gehirn-Muskeln-Entkopplung beim Schlafen und über gelähmte Menschen, die ihre Umgebung wahrnehmen aber nicht Kommunizieren können. Bis zur Seite 240 ist dieser Handlungsstrang in den Hintergrund getreten. Aber die Andeutungen sind da. Der Roman heißt „Fall; or, dodge in Hell“. Das ist auch ein Hinweis.
Der zweite Handlungsstrang spielt im Amerika der Zukunft. Die USA, die sich gespalten haben, in die Leute, die studieren, sich einen sorgsam von Menschen kuratierten Social-Media-Stream halten und im „Blue State“ leben und die Einwohner „Ameristans“, die von KI-generierten Streams übermannt worden sind, vom planlosen Algorithmus gesteuert, der nur auf Augenbewegungen und Clickreize reagiert und jeglichen Sinn und Weltkohärenz verloren hat. Sowie den zahlreichen Übergangszonen zwischen diesen.
Nachgehend der Frage, wie viel Realität da draußen muss sein, wie viele Halluzination können sich Menschen und Gesellschaften erlauben. Wie sehr kann man in einer Phantasiewelt leben, bevor man mit der stofflichen Realität kollidiert?“ Als blödes Wortspiel: er versucht, den SPACE in Cyberspace zu packen. Z: „Wie Fahrrad und Datenautobahn und so?“ Ich: „Vielleicht.“ Z: „Du solltest darüber bloggen.“
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Zum finsteren hier und jetzt: Edward Snowden, Choplifter und Verschlüsselung
Bezugsquelle (unbezahlt und unaufgefordert erwähnt, ehrliche Begeisterung): Hammett Krimibuchhandlung