Telegram – Messenger nicht besser

Telegram – Messenger nicht besser

Telegram ist der Messenger für Menschen, die ein Unbehagen an der Welt mit sich herumtragen – die aber keine Ahnung haben. Lasst die Finger von diesem Programm. Sinnvolle Alternativen sind Signal oder Threema.

Die letzten Sonnenstrahlen versuchen, den Herbst auf Abstand zu halten. Um mich herum nimmt der Anteil an Jacken-Trägern über die letzten Wochen zu. Ich verfolge im Tempelhofer Hafen seit dem Frühjahr den Anblick der Schwan-Jungen. Die entwickelten sich von niedlich über elegant zu hässlich und sehen im Oktober erwachsen aus.

Am ausgestreckten Arm rotiere ich das Handgelenk: Langsam die Faust nach oben ziehen, Arm zweimal drehen, Hand fallen lassen und wieder langsam nach oben ziehen. DJ Hüpfburg kommt herangelaufen: „Was machst Du denn?“ – „Der Mausarm-Kurs auf der App meiner Krankenkasse. High-Tech!“ Sie lächelt: „Du Hipster“

DJ Hüpfburg setzt sich. „Elendes Elend mit den Massenhochzeiten. Erst werden alle krank. Dann will niemand mehr feiern. Gut, dass die Hochzeits-Saison bald vorüber ist. Dann fällt es mir nicht so auf, wenn die Aufträge wegbleiben. Meine Güte, es muss den Menschen doch möglich sein zu heiraten, ohne eine Pandemie auszulösen.“ Sie gestikuliert mit den Händen.

Ich wundere mich „Es ist mittags – und Du hast keine Asia-Box dabei?“ Sie erzählt: Der Streetfoodwagen vor dem Ullstein Castle macht Urlaub. Außerdem war sie weiter im Norden. Ein neuer syrischer(?) Imbiss – Sairan – mit den besten Falafeln nördlich des Mittelmeers und einem göttlichen Schawarma.

Er ist neu und leider noch oft ohne Kunden. Die Falafel sind natürlich nicht vorgeformt, sondern die Masse ist vorbereitet. Die Falafel werden im Moment der Bestellung geformt. Und dieser Salat! So geschmackvoll und säuerlich wie letztens in Nahost. Sie will dort täglich kaufen, um den Imbiss zu retten. „Sairan – willkommen Orient. Direkt vor dem Rathaus Tempelhof! Geh zu Sairan!“

Ihr Telefon trötet. „Töröö!“ Ich schaue ungläubig. „Benjamin Blümchen auf deinem Handy?“ – „Bei mir tröten Telegram-Nachrichten von Unbekannten. Neuer spannender Kunde hoffentlich. Telegram-Anfragen sind die spannendsten. Und die anstrengendsten.“

Ich: „Aha.“

Sie: „WhatsApp machen alle. Signal und Threema sind für anstrengende Leute, die alles besser wissen. Telegram-Nutzer sind die, die keine Ahnung aber eine Meinung haben. Furchtbare Technik. Aber spannende Kunden.“

Das Versprechen von Privatsphäre

Messenger-Dienste entstanden im weiten Raum zwischen Kurznachrichten, Chat und Social Media. Sie bieten die Möglichkeit, private Nachrichten auszutauschen, ebenso wie sich in Gruppen zu unterhalten. Ihr natürlicher Lebensraum ist das Smartphone.

Anders als Social-Media-Plattformen sind Messenger-Dienste tendenziell nicht-öffentlich. Nur Menschen sehen die Informationen, die Mitglied einer Gruppe oder eines Privatchats sind. Messenger-Nutzer schreiben nicht mehr „in das Internet“. Theoretisch bestimmen sie, wer eine Nachricht lesen kann.

WhatsApp ist der größte und bekannteste Messengerdienst. WhatsApp ist vielleicht die weltweit am häufigsten genutzte App aller App-Arten zusammen. Seit 2014 gehört sie zum Facebook-Konzern. Die Chatinhalte selbst sind so verschlüsselt, dass auch Facebook diese nicht lesen kann. Aber Facebook hat Zugriff auf die Metadaten und Kontaktadressen.

Einer sie alle zu knechten?

WhatsApp ist der Messengerdienst. WhatsApp hat 2 Milliarden Nutzer. Ende 2017 wurden 60 Milliarden Nachrichten am Tag ausgetauscht. Laut Facebook nutzten Anfang 2020 58 Millionen Deutsche den Dienst täglich. Oder anders gesagt: Nur einer von vier Deutschen whatsappte nicht. In vielen Gruppen, Vereinen, Organisationen und Geschäften ist es im Jahr 2020 zwingend notwendig, WhatsApp zu nutzen, wenn man nicht die wichtigen Infos verpassen will.

WhatsApp begann als eigenständiger Messenger, der 2014 von Facebook gekauft wurde. Der WhatsApp-Gründer stieg 2017 aus, da ihm der Einfluss von Facebook zu groß wurde. WhatsApp gibt an, dieselbe sichere Verschlüsselung zu nutzen wie der Messenger Signal. Da WhatsApp aber nicht Open Source ist, muss man Facebook glauben, dass es keine Hintertür eingebaut hat.

Für Signal wurde das Verschlüsselungsprotoll entwickelt, das inzwischen auch WhatsApp benutzt. Wenn Menschen an einen sicheren Messenger denken, denken sie oft an Signal.

Signal

Der Messenger Signal wird von einer Stiftung in den USA betrieben. Die Verschlüsselung von Signal ist eine Art Goldstandard der Messenger. Alle Konversationen von Signal sind Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Das bedeutet: Signal selber kann diese nicht lesen. Alle Inhalte der Chats liegen auf den Handies selber. Auf den Servern werden keine Chats gespeichert.

Logo des Messengers Signal / TextSecure
Signal-Logo

Datenschützer bekommen bei Signal ein dezentes Bauchgrummeln, da man für den Signal-Account zwingend eine Telefonnummer benötigt. Diese kann zwar theoretisch nur für den Account angelegt sein – faktisch aber werden die meisten Menschen ihre „normale“ Nummer nutzen. Womit eine Zuordnung von Account zur Person einfacher wird.

Auch sind die Datenschützer unglücklich, da es möglich ist und vom Messenger empfohlen wird, die eigenen Kontaktdaten auf die Signal-Server zu laden. Diese sind dort nicht im Klartext einsehbar, aber prinzipiell zugänglich. Die Server selbst bauen auf die Amazon-Cloud auf. Die ist zwar inzwischen weltweiter Standard, aber nichts, was man gutheißen sollte.

Signal wird von Edward Snowden empfohlen. Unter den sicheren Apps, ist Signal der Messenger mit der weltweit stärksten Verbreitung. In Deutschland, Österreich und der Schweiz hat er eine starke Konkurrenz durch Threema.

Threema

Threema ist ein privat betriebener Messengerdienst aus der Schweiz. Im deutschsprachigen Raum ist Threema neben Signal der andere ´genutzte sichere Messenger. Die Nutzerzahlen beider Messenger im dieser Sprachregion sind ähnlich.

Die App stammt aus der Schweiz. Als einziger verbreiteter Messengerdienst kostet Threema den Nutzer Geld – was die Unabhängigkeit von großen Konzernen oder Spendern bedeutet. Threema ist in Privateigentum. In Deutschland kam das Programm Anfang 2020 auf 5 Millionen Nutzer. In Deutschland hat Threema etwas so viele Nutzer wie Signal. Etwa ein Zehntel so viele wie es WhatsApp-Nutzer gibt.

Threema hat den Vorteil, dass der Messenger-Account nicht mit der Telefonnummer oder anderen Daten verknüpft wird. Threema ist anonym nutzbar.

Soweit dies nachprüfbar ist, macht Threema im Bereich Datenschutz und Sicherheit alles richtig. Doch die Software ist nicht offen. Es lässt sich nicht durch Interessierte mit Sicherheit sagen, ob alles so funktioniert wie versprochen. Verschiedene Security-Audits brachten nur positive Ergebnisse für den Messenger. Threema hat Anfang September 2020 versprochen, dies zu ändern und die Software der Client-Software in den folgenden Monaten komplett offen zu legen.

Threema und Signal haben eine gewisse Verbreitung. Wobei die meisten die Programme nur als „Neben-Messenger“ nutzen. Viele der Signal und Threema-Nutzer sind mit WhatsApp oder Telegram unterwegs. Anders sieht es aus bei Telegram: dem Messenger, der an Verbreitung, Art und der Nutzung und an den im innewohnenden Problemen WhatsApp am nächsten kommt.

Telegram

Der wichtigste, bekannteste, am weitesten verbreitete Dienst nach WhatsApp, ist Telegram. Dieser zeichnet sich auf den ersten Blick dadurch aus, dass er zwei Funktionen vereinbart: Gruppen mit bis zu 5.000 Teilnehmern, in denen Nachrichten schnell und weit gestreut werden können. Damit ist Telegram an ähnlichsten den klassischen Social-Media-Plattformen. Telegram, das Facebook unter den Messengern. Laut c’t „glänzt der Messenger bei Spielereien.“

Telegram ermöglicht mit etwas Mühe stark verschlüsselte Privatchats. Telegram ist der Chat, der in Aufbau und Funktionen WhatsApp am nächsten kommt.

Nur ist er technisch unsicherer. Die App-Betreiber sind ähnlich vertrauenswürdig wie das Facebook-Imperium.

Telegram. Das Facebook unter der Messenger. Hier mit arabischem Spambot. Bild: SPIM on Telegram. Screenshot von 社会我佩奇 Lizenz: GNU General Public License

Telegram stammt ursprünglich aus Russland. Eigentümer, Geschichte und Technik sind undurchsichtig. Vermutlich sitzen Macher und Server inzwischen in den Golfstaaten.

Telegram vermeldete im Frühjahr 2020 etwa 400 Millionen Nutzer weltweit. Dabei sei der Messenger in 20 Ländern der Welt führend. In Deutschland wurde Telegram Anfang 2020 von 7 Millionen Menschen genutzt.

In die Medien kam Telegram in diesem Jahre vor allem durch Attila Hildmann und dessen Telegram-Gruppe. Meine jungen Politfreunde würden Hildmanns Gruppe „rechtsextrem“ nennen – ich aber würde sagen, dass Faschismus ein in sich geschlossenes Weltbild hat. Ich würde behaupten, dass in Hildmanns Aussagen beim besten Willen kein geschlossenes Weltbild zu erkennen ist. „In sich logisch“ ist da gar nichts.

Anhänger faschistoider Verschwörungstheorien mit geschlossenem Weltbild finden sich auch auf Telegram. Die politischen Jugendschützer von Jugendschutz.net reden vom „rechtsextremen Tummelplatz“. Sie beschwören eine „Verschwörungsschleuder“. Sie bezeichnen Telegram als „zentrale Ausweichplattform für rechtsextreme Propaganda“ sprechen.

Aber nicht nur: Bei sieben Millionen Nutzern in Deutschland ist der Anteil politisch aktiver Faschisten verschwindend klein. Weltweit ist Telegram oft erster Anlaufpunkt für Menschen, die „etwas anderes“ wollen. Die Opposition im Iran nutzt das Programm ebenso wie die Opposition in Belarus. Das Programm gehört zu den 10 meistgenutzten Apps weltweit.

Leider ist Telegram von allen Messengern, derjenigen der in seiner IT-Sicherheit Lücken so groß wie Kettenkarussels hat.

Telegram – auf dem Server

Telegrams größer Minuspunkt in Hinsicht auf die Sicherheit ist einer der großen Pluspunkte auf die Bequemlichkeit: Die Kommunikation läuft nicht über die Endgeräte. Die Daten liegen auf den Servern, neumodisch „in der Cloud.“. Das erlaubt den Zugriff über verschiedene eigene Geräte.

Der Nutzer sieht am Rechner und den zwei eigenen Handies dieselbe Unterhaltung. Es erlaubt aber anderen Zugriff auf die Server. Zumal die Chats grundsätzlich keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung besitzen.

Gruppenchats sind nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt, sondern werden auf den Servern der Betreiber gespeichert – wo diese mitlesen können.

Sichere Chats sind nur im Privatchat möglich und müssen erst aktiviert werden.

Telegram-Screenshot. Aufbau eines verschlüsselten Privat-Chats.
Verschlüsselung ist möglich. Aber schwierig. Bild: Telegram – secret chat. Screenshot von: Robin van der Vliet Lizenz: GNU General Public License

Dabei gibt Telegram keine Details darüber preis, wie die Kommunikation wirklich verschlüsselt wird. Die bekannten Infos über die konkrete Umsetzung der Verschlüsselung lassen nichts gutes vermuten. Das von Telegram entwickelte MT-Protokoll fiel 2017 in seiner ersten Version bei einem Sicherheitsaudit des Massachusetts Institute of Technology durch. Seitdem existiert eine neue Version, zu der es allerdings keinen Audit gibt.

Das Programm erfordert den Zugriff auf die Kontaktdaten der Teilnehmer und speichert diese.

Die Telegram-Macher

Der Telegram-Gründer „Pawel Durow“ gilt als „russischer Mark Zuckerberg“ und war am größten sozialen Netzwerk des Landes vk.com beteiligt. Wer würde bei „Russland“ und „Mark Zuckerberg“ nicht sofort an liberale Freiheitsrechte, Datenschutz und eine offene, progressive Gesellschaft denken?

Durows Legende nach wurde er aus dem Unternehmen vk.com gedrängt, da er Nutzerdaten nicht an den Staat geben wollte. Dabei ist das Unternehmen an Legenden reich: Weder ist bekannt, wo es sitzt, noch wie es sich finanziert. Telegram zeigt keine Werbung und kostet kein Geld. Aus welchen anderen Quellen telegram Geld bezieht – Privatvermögen? Staaten? Mäzene? Ist der Öffentlichkeit und den Telegram-Nutzern vollkommen unbekannt.

Telegram und seine Nutzer erzählen, dass es die sicherste App ist. Dabei wurde sie bekanntermaßen vom iranischen Geheimdienst ebenso geknackt wie vom deutschen.

Die Anderen

Darüber hinaus gibt es den Facebook Messenger (wie What’sApp- nur schlechter). Skype gehört Microsoft. Das Unternehmen versucht derzeit, skype loszuwerden und durch MS Teams zu ersetzen.

Als Idee spannend, in der Umsetzung schwierig, zeigt sich das freie Messengerprotokoll XMPP. Dieses soll es ermöglichen, dass verschiedene Messenger miteinander kommunizieren können. Messengerdienste, die auf diesem Protokoll aufbauen, sind beispielsweise die Programme Conversations, Quicksy oder Yaxim. Nur für iOS existieren Chatsecure, Monal oder Siskin. Ergänzend dazu gibt es das Matrix-Protokoll, das neben XMPP auch IRC unterstützt. In diesem Umfeld finden sich die Messengerdienste, die den besten Schutz der Privatsphäre bieten und dem Nutzer die höchste Kontrolle über die eigenen Daten gewähren.

Leider ist der Datenschutz bei diesen Messenger auch hoch, weil ihr nur mit den fünf anderen Digital- und Datenschutznerds kommunizieren werdet, die sich brennend für das Thema Messenger interessieren. Falls ihr diese fünf Treffen wollt, empfehle ich die Website freie-Messenger . Wenn ihr verstehen wollt, wie Macher und Nutzer ticken, den Artikel bei Digitalcourage zu Messenger-Alternativen.

Die Telegram-Nutzer

Noch ist Telegram die klare Nummer 2 in Deutschland. Jeder, der Telegram nutzt, hat eine bewusste Entscheidung getroffen, nicht WhatsApp zu nutzen. Das erforderte Energie und etwas Mühe. Das Gute: Innerlich haben Telegram-Nutzer den lauschigen Sessel verlassen. Sie sind aufgestanden und losgegangen auf der Suche nach einem besseren Messenger. Leider gingen sie in die falsche Richtung. Ob sie bereit sind umzukehren? Das lässt sich nur im Einzelfall sagen.

DJ Hüpfburg ist fertig mit dem Chat. Sie springt auf: „Ich muss los. Ich muss denken! Es soll eine Black-Lives-Matter-Hochzeit unter Einbeziehung von Lausitzer Trachten werden. Und der Brautvater möchte einen Tesla prominent auf der Startseite der Hochzeitshomepage. Komplett-Gaga, aber spannend. Telegram-Anfrage halt.“ Sie wendete sich zum gehen. Mir fiel noch ein: Black Lives Matter? Für Ideen? Ich schick‘ dir den Link zur Post-Soul Black Culture aus der Village Voice. Und sie verschwand.

Weiterlesen

Bester deutschsprachiger Artikel zur Technik aller Messeger: im Kuketz-Blog: Teil 1: Allgemeine Übersicht und Teil 3: Telegram. und über Telegram

Zum schauen mit nur wenig lesen: Die Messenger-Matrix

Anwendungsprobleme: Mama braucht ein Smartphone

Sairan hat leider keine Website.

Titelbild zum Beitrag: How to educate Newbies. Screenshot eines chinesischen Telegram-Channels zur Wikipedia. Angefertigt von Techyan Lizenz: GNU General Public License

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