Wer ist Readdle?
„Er sitzt auf 20 Kilo Gelierzucker im Keller und wartet auf bessere Zeiten. Warum?
DJ Hüpfburg war Einkaufen. Wir trafen uns danach am Ullstein Castle. Sie zeigte sich noch verstört von dem Kunden vor ihr. Der hatte sich mit der Kassiererin lautstark über sein Menschenrecht auf 20 Kilo Gelierzucker gestritten. Erfolglos. Er hatte die Kasse entrüstet verlassen, nur um es zwei Kassen weiter zu versuchen. „Interessante Zeiten, wahrhaftig.“
„Vielleicht will er frische Früchte einkochen?“
„Mitte März? Möhrenmarmelade, oder was?“
Vielleicht ist die Welt gerade so schrecklich, dass jeder gerade Bewältigungsstrategien einsetzt, um psychisch mit dem Krieg nebenan umzugehen. Und sei es die Anfertigung von Möhrenmarmelade.
„Mir persönlich ist auch noch nichts Besseres eingefallen als „Halte ich fern von Social Media“ und „Spende an der richtigen Stelle.““
Um so überraschter war ich, als mich mein unspektakuläres E-Mail-Programm auf dem Handy letztens mit „Glory to Ukraine“ und einer Spendenseite „Für militärische Hilfe“ / “Für humanitäre Hilfe“ empfing.
Readdle
Spark ist Mail-Programm vor allem für das iPhone. Ich installierte es, da ich nicht immer nur Gmail nutzen wollte und mit dem Apple-Mail-Programm gar nicht zurechtkam. Seitdem ist es unauffällig, stört nie und macht relativ elegant genau was, was ich möchte. Eigentlich geht es für eine solche App nicht besser – aber dennoch ist es auch kein Verhalten, das in mir Liebe, Hingebung oder auch nur gesteigertes Interesse weckt.
Bis mich die App plötzlich zum Spenden für die ukrainische Armee aufforderte. Ich wurde neugierig. Ich fand Readdle – das am wenigsten glamouröse Software Start-Up, das ich mir vorstellen kann.
Readdle beschreibt sein Geschäftsmodell als „Productivity Apps“ – E-Mail, Dokumentenscanner, PDF-Bearbeitung. Dabei setzen sie auf bekannte und bewährte Apps und wollen diese nur etwas besser machen. Readdle nahm nie Venture Capital – was auch kein Wunder ist, die in dieser Szene so beliebten Stories der Weltveränderung bei gigantischen Gewinnen lassen sich mit „PDFs bearbeiten geht etwas einfacher als sonst“ nur schwer erzählen.
Aktuelle Produkte
Scanner Pro – Scannt Dokumente via Handy-Kamera
PDF Expert – Zum Bearbeiten von PDF-Dokumenten
Fluix – B2B Workflow Automation SaaS
Spark – E-Mail-Programm
Documents – Dateimanager und Media Player
PDF Converter – Wandelt Dokumente in PDFs um
Calendars – Kalender und Planner
Spezialisiert ist das Unternehmen auf iPhone-Apps. Soweit ich sah, gibt es verschiedene Apps von ihnen aber inzwischen auch für Android-Geräte.
Sich unter hunderten Anbietern ähnlicher Programme zu behaupten, bedeutet etwas. Unter den Herstellern der „Productivity Apps“ tummeln sich auch Microsoft, Google, Adobe und einige Andere. Und trotzdem fand Readdle dauerhaft seine Kunden. Nach längerer Nutzung von Spark, ahne ich auch warum.
Außerdem stammt Readdle aus Odessa in der Ukraine. Und aus dieser Richtung stammt der Spendenaufruf.
Die Geschichte
Readdle wurde 2007 gegründet und begann mit einem Buch- und PDF-Reader für den Safari-Browser. an. Die beiden Mit-Gründer Alex Tyagulsky and Andrian Budantsov kauften wenige Wochen nach US-Markteinführung das erste iPhone. Sie waren angetan vom Gerät, aber entsetzt, das eine Funktion fehlte, die sie schon auf ihren PalmPCs gehabt hatten: Die Fähigkeit, Bücher zu lesen.
„„We read a lot,“ explains Tyagulsky, the company’s wildly frenetic chief marketing officer. […] „It’s part of the culture: you read a lot at school and university,“ he says. „Reading on the phone was very natural for any person of my age and my education in Ukraine.“ (Nach the Verge: Getting rich on apps in the heart of Ukraine)
Sie beschlossen, das Problem anzugehen. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine App-Store und keine Apple „Apps“ gab, starteten sie das Projekt als web-basierten Service für den Safari-Browser. Die ersten Beteiligten waren Igor Zhadanov, Alex Tyagulsky, Andrian Budantsov, and Dmitry Protserov
Readdles erstes Programm war der Dokumenten-Reader und Verwalter „ReaddleDocs“. Apple fragte an, ob sie zum Service eine App programmieren wollten und das Programm in den ersten App-Store stellen wollten, der 2008 mit etwa 500 Apps an den Start ging.
Nachdem sie in der ersten Woche 3000$ an App-Store-Verkäufen eingenommen hatten, kündigte Tyagulsky seinen Job. Die vier beschlossen, dass das Unternehmen die Chance hätte, zu überleben. Das erste Büro lag in einer Eckwohnung im dritten Stock einer „Krushkova“, einfach gebaute Wohngebäude für die Massen aus der Ära Nikita Chruschtschow in den 1960ern. Miete: 400 Dollar/Monat.
Da sie ihr Büro inmitten eines Wohngebäudes hatten und zu ungewöhnlichen Zeiten arbeiteten, hielten Nachbarn sie wiederholt für Drogendealer. Der erste große durchbrich gelang Anfang 2009 als das Wall Street Journal die App in einer Liste auflistete, „die das iPhone seinen Preis wert machen“ und sich die Verkäufe innerhalb von Tagen vervielfachten.
Bis 2014 wurden die Apps 20 Millionen Mal heruntergeladen, in Odessa arbeiteten 43 Menschen. Inzwischen wurden Readdles Apps 150 Millionen Mal heruntergeladen. Große Umstellung war die Abkehr von einem Modell bezahlter Apps (9,99$/App) zu einem Freemium-Modell (App umsonst, Zusatzfunktionen kosten extra) zu einem Abo-Modell (App umsonst, Zusatzfunktionen kosten jedes Jahr extra).
2014 waren sich die Betreiber noch unsicher, ob sie Odessa für das Silicon Valley verlassen sollte. Für Odessa sprach der große Pool an bezahlbaren IT’lern mit guter Ausbildung, die bodenständigere Atmosphäre und der Drang in der eigenen Heimat etwas zu machen. Für San Francisco der Zugang zu Geld, die größere Beweglichkeit in geschäftlichen Dingen und die grassierende Korruption in der Ukraine.
Die Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 trug sicher dazu bei, dass sich Readdle auch stärker in die USA orientiert. Heute beschäftigt das Unternehmen 200 Angestellte in Büros in Odessa und San Francisco. Der Großteil der Beschäftigten befand sich – zumindest im Februar 2022 – noch in Odessa.
Seitdem der Krieg ist
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine entfernte Readdle alle Apps aus dem russischen App-Store und weigert sich, mit „Unternehmen im russischen Bsitz“ Geschäfte zu machen. Nach der Ankündigung des Unternehmens können russische User die Apps weiter nutzen, es wird allerdings keine Updates mehr geben.
Das Widget
Inzwischen enstand ein Widget mit Spendenlink, das Webmaster auf ihrer Website einbinden können. Wie testweise in diesem Beitrag. Unterstützt wird das Widget neben Readdle auch von der Kyiv Post, von WordPress und von tumblr. Helpukraine-Win-Widget.
Die Spendenseite
Weiterlesen
Porträt von 2014 in „The Verge“; ein Artikel der konzipiert war bevor es Maidan-Proteste gab; der Besuch des amerikanischen Autors im Land lag genau zwischen Maidan und russischer Besetzung der Krim.
Video mit Denys Zhadanov in der Kyiv Post – Vice President und kleiner Bruder des Mitgründers Igor Zhadanov.